Dienstag, 27. September 2011

Als ich einmal die Bahn verpasste...

Die einzige Möglichkeit für uns Menschen unsere Emotionen mit Hilfe unseres Körpers zu zeigen ist das Tanzen. Rock 'n' Roll ist dabei das Rebellische, der Widerstand, Tango ist die tiefste, leidenschaftliche Eifersucht und Konkurrenz, mit dem Walzer teilen wir sanfte, zärtliche Liebe und für Jazz wird nicht umsonst oft die Bezeichnung "Sex auf dem Parkett" benutzt.

...und dabei kann man schon vor dem Tanztraining so viel emotionenreiches erleben.

Vor einigen Jahren haben sich die zwei ältere Tanzgruppen unserer Trainerin, die aus zwei verschiedenen Städten stammen, zu einer großen zusammengeschlossen. Gleich darauf trafen sie die Entscheidung, dass beide kleineren Gruppen jeweils drei Mal in der Woche tanzen sollen. Jede zwei mal bei sich in A-Stadt und einmal bei den anderen in B-Stadt. Der Wochenplan von uns A-Städtern sah dann so aus: Dienstags ging es zu den B-Städtern nach B-Stadt, Mittwochs hatten wir alleine bei uns Training und Freitags kamen die B-Städter zu uns nach A-Stadt zum Tanzen.
Die Zugfahrten Dienstags waren dabei immer ganz lustig. Obwohl unsere Jahreskarten nie bis nach B-Stadt reichten, kauften wir uns keine Fahrkarten und sparten uns die 2€ Fahrtgeld. Wenn Kontrolleure vor der Preisstufengrenze auftauchten, zeigten wir immer mit reinem Gewissen unsere Jahreskarte. Wenn sich die Männer mit dunklen Uniformen blicken ließen, wenn die Grenze überschritten war und unsere Karten nicht mehr gültig waren, wurde es natürlich schon gefährlicher, aber dann sagten wir, wir hätten nicht gewusst, dass wir nur bis C-Hausen fahren könnten und wurden dann meistens begnadigt und fuhren bis zu unserem Ziel.

Eines schönen Tages verpasste ich die Straßenbahn. Als ich mit der nächsten am Hauptbahnhof ankam, blieben mir noch drei Minuten bis zur Abfahrt meines Zuges. Ich stürmte raus und rannte wie eine verrückte los. Meine offene Kapuzenjacke flog durch die Lüfte wie ein Cape. Mein IPod spielte gerade "Superman" von Eminem. Es regnete. Ich rutschte auf den Treppen aus, aber fing mich noch rechtzeitig, ohne hinzufallen. Der Zug stand schon da. Ich drückte auf den Knopf. Die Türen öffneten sich. Ich ging rein, suchte zwischen den Sitzenden drei blonde Köpfe. Doch meine Freunde waren nirgendwo. Kein Problem. Vom Bahnhof in B-Stadt musste man nur geradeaus laufen, keine Chance sich zu verlaufen, nicht einmal für mich. Ich setzte mich hin. Auf dem Paltz gegenüber saß ein gut aussehender Jugendlicher meines Alters. Genau mein Typ. Er schien mich sogar gelegentlich anzuschauen. Hat die Zugfahrt nicht doch noch ein gutes Ende? Plötzlich riss mich eine dunkle Gestalt aus meinen Träumereien. Es war ein Mann im hinteren Teil des Wagons, eine Figur in dunkler, blauer Uniform. Oh shit. Ich schluckte. Der Typ gegenüber lächelte mich an. Na toll. Ich drehte mich möglichst unauffällig um und bemerkte einen zweiten Kontrolleur, der von vorne nach hinten durchging. Noch toller. Kein Weg zu entkommen, die Preisgrenze war überschritten. Lügen und Betrügen zu riskant. Noch zwei Haltestellen bis B-Stadt, doch mit jeder Minute kamen die Kontrolleure näher einander entgegen und wagten mich zu erdrücken wie zwei Betonwände. Nein, unmöglich, ich kann es nichtmehr schaffen. Es gibt nurnoch einen einzigen Weg den Busgeldern zu entfliehen: aussteigen. Die nächste Haltestelle des Zuges war Z-ingen. Mit Z-ingen hatte ich bereits schlechte Erfahrungen gemacht. In einer ähnlichen Situation musste ich zusammen mit einer Freundin vom Tanzen eine halbe Stunde am Z-inger Bahnhof verbringen, an dem es wirklich nichts gibt. Nichts ausser einen Süßigkeitenautomaten, den wir an diesem Tag maßlos überfordert haben. Nun war ich da, hatte überhaupt keine Lust auf den nächsten Zug zu warten, nur um erneut zu versuchen der Farhkartenkontrolle zu entweichen. Nachdem der Zug abgefahren war, herrschte komplette Stille. Ich sah mich im Dorf um und konnte mich glücklich schätzen auf zwei Einheimische gestoßen zu sein, die ich nach dem Weg zum B-Stätder Bahnhof fragen konnte. Ja, erklärte die nette Dame, natürlich könne man zu Fuß gehen, nur, dass das dann eine Stunde dauert und es nicht wirklich einen Geraden Weg dorthin gibt. Sie fügte hinzu, dass der Bus zum Bahnhof in einer Minute abfährt. Zum Glück sah ich den Bus rechtzeitig, rannte zu seiner Haltestelle und erreichte ihn, bevor er wegfuhr. Als der Bus abfuhr, war er noch so gut wie leer. Ich ging nach vorne durch, wandte mich an den Fahrer und schilderte ihm meine Situation, glücklich darüber eine Lösung des Problems gefunden zu haben. Der Busfahrer, der erstaunlich freundlich war, wies mich jedoch enttäuschender Weise, mit breitem Lächeln im Gesicht, darauf hin, dass der Bus nicht am Bahnhof hielt. Innerlich wäre ich fast ausgetickt. Ich fing an schneller zu atmen, drohte fast hyperzuventillieren. Tief in meiner Kehle saß ein dicker Klos fest und ich dachte wirklich, ich würde gleich anfangen hysterisch loszuheulen. Entweder vor Wut oder vor idiotischer Planlosigkeit. In einer fremden Stadt, weit weg von der Zivilisation, im falschen Bus nach nirgendwo.

Bis zum Trainigsanfang blieben mir nurnoch wenige Minuten und nachdem der Bus eine viertelstunde lang durch das Dorf gerollt ist, wurde aus der Hoffnung rechtzeitig zu kommen allmählich die Hoffnung überhaupt irgendwann irgendwo anzukommen. Wahrscheinlich hatte der Fahrer ein schlechtes Gewissen oder ich tat ihm Leid, denn er sprach mich an und teilte mir mit, es gäbe einen anderen Bus, mit dem ich sicher bis zum Bahnhof käme. Also stieg ich aus, lief den gezeigten Weg zur Haltestelle meines Busses. An der Halte stand ein recht junges Ehepaar. Nachdem ich beim Lesen des Fahrplans scheiterte, blickte ich die zwei neben mir an und entdeckte am Hals der Frau einen Davidstern und entschied mich dafür den üblichen "Judenbonus" zu nutzen. Gleich darauf sprach ich sie an: "Hallo, sind Sie auch Jüdin?" Ich deutete auf die Kette an ihrem Hals "Das ist ja ein Zufall! Wow, ich bin total beeindruckt... wissen Sie, wann der Bus kommt?". Leicht überrumpelt sah das Paar erst einander an, dann mich. Die Frau begann laut zu lachen. "Ich bin garkeine Jüdin! Davidstern? Hmm.. stimmt, schaut danach aus, ne?!", sagte sie, während sie sich eine Träne aus dem Gesicht wusch. "Der Bus kommt trotzdem in 2 Minuten...", fügte ihr Mann hinzu. Einfach nur peinlich. Ich redete weiter, um das Geschehen ein bisschen zu überspielen, erzählte irgendwas sinnloses, bis der Bus kam. Ich denke, die waren recht erleichtert mich endlich los zu haben.
Doch auch der Bus fuhr nicht zum Bahnhof. Ach... ich dachte schon garnichts mehr. Was habe ich eigentlich erwartet? Schon okay. Passt.
Wie aus dem nirgendwo tauchte dann dieser Typ auf. Wirklich. Keine Ahnung wo er auf einmal herkam. Jedenfalls mischte sich irgendwann ein 13 oder 14 Jähriger Kerl in mein lebhaftes Gespräch mit dem Fahrer ein. Er sagte, er wohne in der Nähe von der Halle, in der ich tanze und schlug vor, mich zu begleiten. Da er nicht gerade aussah wie ein pädophiler Vergewaltiger, lief ich mit ihm 20 Minuten lang Kreuz und quer durch die Gassen B-Stadts. Er erzählte mir sein Leben. Er machte ein Praktikum bei einem Elektronikfachgeschäft, er ging auf irgendeine Schule in die 9te Klasse, seine Eltern besaßen ein Restaurant, in dem er selber arbeiten wird, wenn er mit der Schule fertig ist, er ist Serbe.
Irgendwann, nach langem Gehen und Zuhören erkannte ich langsam eine gewohnte Umgebung, verabschiedete und bedankte ich mich recht herzlich und sprintete sofort los.

Ich kam etwa eine halbe Stunde zu spät. Stürmte mitten in die Ballettübungen, als alle Tänzerinnen ihre elegante, schwarze Tanzkleidung trugen und ihre Haare zu einem ordentlichen Dutt zusammengebunden haben. Sie streckten ihre Hälser, zeigten mit ihren Nasenspitzen hoch empor zur Decke, was sie so schön wirken lies. Ich meinerseits hatte ein hoch rot angelaufenes Gesicht, verschmierte Schminke und Vogelnesfrisur à la Straßenpenner. Ich dachte, ich würde totalen Ärger wegen der Verspätung bekommen, doch statt dessen wurde ich einfach nur ausgelacht...

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