Sie beugte sich nach vorne, stützte sich dabei am Waschbecken ab. Sah in den verdreckten Spiegel. Er reflektierte ihr bleiches, schwaches, abgemagertes Gesicht. Ihre nassen Haare hingen strähnig herunter und klebten an ihrer Haut. Ihre Wimpertusche verschmiert. Die Pupille geweitet. Als sie das Geräusch der Wassertropfen wahrnahm, drehte sie den Hahn fester zu. Doch das gleichmäßige Aufprallen der Tropfen auf das Becken blieb in ihrem Kopf. Der Ton verharrte in einem lauten Echo. Dann wurde das Geräusch immer schneller und lauter, bis es flüssig in das dumpfe Schlagen ihres Herzen überging. Als sie sich aufrecht hinstellte, bemerkte sie ein ziehen in ihrem Bauch. Die Muskeln verkrampften sich und ihre Körpertemperatur stieg rasch an. Sie fühlte plötzlich eine Hitze, die den Inhalt ihres Magens zum kochen zubringen schien. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Er glühte. Sie schreckte zurück, lehnte sich an die Wand. Das Brennen verteilte sich in alle möglichen Regionen ihres Körpers. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Auf einmal wurde das Brennen begleitet von einem stechenden Schmerz. Er war überall und tat höllisch weh. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen. Ihre Augenlider wurden immer schwerer und drohten zuzufallen. Die Fließen an der Wand verschwammen. Der Boden fing an sich unter ihren Füßen zu bewegen, ihr wurde schwindelig. Ihr Herz fing an zu flattern, schlug wie verrückt, kämpfte bis zum Letzten. Ihr Hals wurde trocken. Sie fing an zu husten. Irgendwas schien ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie bekam keine Luft mehr. „Es war doch nur eine Pille“, dachte sie, „nur eine Pille“. Ein dumpfer Aufprall war zu hören, als sie langsam auf die Knie abrutschte und sich die Ellenbögen an dem harten, kalten Fußboden aufschürfte. Sie spürte ihren Bauch nicht mehr. Alles was da war, verschwand im Brennen und im Schmerz. Der bittere Geschmack in ihrem Mund ließ sie erschöpft nach der Toilettenschüssel greifen. Mit ihren dreckigen Fingernägeln krallte sie sich an das kalte Material und mit den letzten Kräften zogen sie ihre schwachen Arme quer über die weißen Fließen des Bodens. Sie stämmte sich hoch und ließ ihr Gesicht im Klowasser hängen. Ihre Hände griffen nach der Brille und drückten sie hoch. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Sie würgte. Der Schmerz sollte aufhören. Doch er tat es nicht. Es kam nichts raus. Leeres Würgen. Leeres Erbrechen. Der warme, feuchte Schweiß lief ihr über das kalte Gesicht. Plötzlich fühlte sie ihren Körper nicht mehr. Sie gab es auf. Sie stand auf, ging zum Spiegel und zerbrach ihn mit der bloßer Hand. Das Glas bohrte sich in ihren Arm. Es tat nicht weh. Es tat gut. Sie nahm eine spitze Scherbe, lief langsam, mit schwerem Schritt zum Lichtschalter, kaum in der Lage sich auf den Beinen zu halten, erhob den rechten Arm, strich fast unbemerkt über den Schalter. Das Licht ging aus. Sie fühlte sich auf einmal viel sicherer. Als ihr Zeigefinger die untere Kante des Schalters erreichte, rutschte der Arm ab und fiel leblos zurück zu ihrem Körper, die Schulter mit herunterziehend. Sie glich einer Puppe, die ihre Bewegungen, ihren Körper, nicht unter Kontrolle hatte. Einer Puppe aus Gummi. Sie nahm die Scherbe. Nur kurz sah sie das Stück aus scharfem Glas an. Ein kühler Schauer durchfuhr ihren Körper. Ihr war alles egal. Der Schmerz sollte aufhören. Sie hat ihr Leben geliebt. Und langsam hat sie es verlernt sich selber zu lieben. Mit zitternden Händen, und doch voller Entschlossenheit rammte sie sich die Scherbe in die Kehle. Sie taumelte zurück, fiel fast, lehnte sich an die kalte Wand, schloss die Augen und rutschte sie ohne weitere Wahrnehmungen hinunter. Das einzige, was sie dabei hinterließ, war ein kaum sichtbarer, rubinroter Blutstreifen.
Samstag, 23. April 2011
Freitag, 13.
„Mist!“, dachte ich, als ich mich auf die U-Bahn stürzte. Sie sollte erst in zwei Minuten ankommen und der Bus hatte auch wieder Verspätung. Nichts funktioniert heute. Aus dem Joggen wurde Rennen und schließlich Sprinten. Der Fußboden der Haltestation war viel zu glatt und meine schwarzen Chucks drohten auszurutschen. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir Wanderschuhe anzuhaben. Das Piepen der Türen erklang und sie fingen an sich langsam zu schließen. Fast in Zeitlupe. Als ob sie sich darüber lustig machten, dass ich es nicht einmal schaffen könnte, wenn sie eine Minute brauchten. Ich legte Tempo zu. Meine Füße spürte ich nicht mehr. Sie klappten schließlich zu und bevor ich gegen die Tür klatschte, rutschte ich weiter nach links, um es bei der nächsten, noch offenen Tür zu versuchen. Es war nur noch ein kleiner Schlitz zu sehen. Sie ging schließlich wieder auf, ohne dass ich etwas gemacht habe. Ich wischte mir mit meinem Ärmel den Schweiß von der Stirn und stieg ein. Ich war noch am Keuschen, als ich eine ältere Frau entdeckte, die mich angrinste. „D… Dankeschön…“, stotterte ich und lief weiter. Ich sah mich nach einem freien Sitzplatz um. Alles besetzt. Wie immer. Zumindest wie immer, wenn man zu spät dazu steigt. Also lehnte ich mich einfach gegen die Wand. Das Vibrieren des Metalls fühlte sich an der Wirbelsäule unangenehm an, genauso wie der nervige Klang der ratternden Räder auf den Schienen der U-Bahn. Es war dunkel und ab und zu sah man Graffitis vorbeiflitzen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mal mit meinem Kumpel Aaron nachts in einen Tunnel geschlichen bin und wie wir die Wand mit grellem Marinblau angesprüht haben. Das Gefühl etwas Böses zu tun war erschreckend schön und wir fühlten uns unglaublich mächtig. Als die U-Bahn an die Oberfläche kam, blendete das Tageslicht meine Augen. Langsam fuhr die Bahn im nächsten Bahnhof ein. Schließlich kam sie zum Stehen. In meiner Nähe stieg eine Frau aus und ihr Sitzplatz wurde frei. „Geht doch!“, dachte ich und machte mich auf den Weg. „Entschuldigung.“, hörte ich einen dicken Mann mit Halbglatze vor mir sagen, der sich im nächsten Moment an mir vorbei zwang. Als ich zu dem Platz sehen wollte, war er wieder besetzt. Von einem Mädchen in meinem Alter. Vielleicht sogar ein wenig älter. Sie saß nur so steif da und blickte stur nach vorne. Ich sah sie nur von der Seite, aber dies genügte, um festzustellen, wie hübsch sie war. Weiche Gesichtszüge. Sie war fein geschminkt, sah unglaublich frisch und jung aus. Sie hatte dunkle, glatte Haare, ihre Haut dagegen war blass, wie frisch gefallener Schnee an einem kühlen Wintertag. Sie hatte ein grades Näschen und hellgraue Augen, über denen sich eine dünne Augenbraue wölbte. Sie sah kurz in einen Spiegel, tastete etwas an ihrer linken Gesichtshälfte ab, richtete sich ihre Haare. Sie steckte den Spiegel zurück in ihre Hosentasche, sah kurz verlegen nach unten, bevor sie sich wieder mit übergeradem Rücken hinsetzte und weiterhin nach vorne starrte. Dieselbe Stimme, wie die, die sagt „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ verkündete meine Haltestelle. „Toll!“, dachte ich angepisst, „jetzt hat der Tag wenigstens eine gute Sache gebracht…“. Ich ging an dem Mädchen vorbei zum Ausstieg und blieb stehen. Ich drehte mich ein letztes Mal um, um mich mit dem Blick von der unbekannten Schönheit zu verabschieden. „Lächle sie an, bevor du gehst“, sagte ich mir dabei. Doch dazu kam es nie. Entsetzt sah ich sofort weg. Ihre linke Wange war vernarbt und gleichte geschmolzenem Käse. Das Auge bedeckt von einem weißen, quadratischen Pflaster. Blaue Adern zogen sich über die ganze Gesichtshälfte und verabreichten ihm einen grünlichen Farbton. Das Kinn eine einzige, rosafarbene Geschwulst…
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